Wiesbaden/Frankfurt, 20. März 2025
80 Jahre Kriegsende – fehlende Bilder von Odesa bis Dakar
In der Filmreihe „80 Jahre Kriegsende – fehlende Bilder von Odesa bis Dakar“ präsentiert goEast eine ausgewählte Sammlung herausragender historischer Spielfilme, die unterrepräsentierte Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg bieten, begleitet von einem interdisziplinären Diskussionspanel. Die von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderte Reihe untersucht das Verhältnis von Film und Erinnerungskultur und fragt sich – in Anlehnung an Michael Rothbergs Konzept – ist multidirektionales Erinnern (und Kuratieren) möglich?
Schindlers Liste, Der Soldat James Ryan, Das Boot – große Kinoproduktionen über den Zweiten Weltkrieg prägen das westeuropäische Gedächtnis an den Krieg und unsere Erinnerungskultur. Wer jedoch in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, hat oft ganz andere filmische Referenzen. Die klassischen Kriegsproduktionen aus der UdSSR zeigen den Holocaust nur selten, dafür aber die Heldentaten der Roten Armee. Die Deportationen von Minderheiten wie den Kalmücken, Krimtataren oder Wolgadeutschen unter Stalin fehlen in der sowjetischen Filmgeschichte und wurden erst im Zuge von Perestrojka und Glasnost einigermaßen aufgearbeitet. In vielen afrikanischen Ländern wiederum liefern heimische Kinoproduktionen kaum Bilder vom Zweiten Weltkrieg. In den westeuropäischen Kinos werden dagegen insgesamt wenig Filme über den Pazifikkrieg aus asiatischer Sicht gezeigt. Welche Folgen haben diese „fehlenden Bilder“ für unsere Erinnerungskulturen?
Die Filmreihe startet mit Mark Donskois sowjetischem Kriegsdrama THE TARAS FAMILY (NEPOKORJÓNNIJE / DIE UNBEUGSAMEN, UdSSR 1945), der erste Spielfilm weltweit, der die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg thematisierte. Der in Odesa in einer jüdischen Familie geborene Regisseur wurde vor allem durch seine Verfilmungen der Werke von Maxim Gorki bekannt, aber war in den 1960er Jahren auch als Filmdozent tätig. Die UdSSR bildete in der Zeit viele Studierende aus der sogenannten Dritten Welt aus. Zu den Studierenden von Mark Donskoi gehörte etwa Ousmane Sembène, der damals in seiner Heimat Senegal bereits zu den herausragendsten Intellektuellen und Schriftstellern gehörte. Sembène ist bis heute einer der wenigen Filmregisseure, der in seinen Filmen den Zweiten Weltkrieg aus einer afrikanischen Perspektive zeigte. goEast zeigt eine 2023 neurestaurierte und digitalisierte Fassung von CAMP DE THIAROYE (DAS CAMP DER VERLORENEN, SEN, DZA, TUN 1988) – ein Film, in dem die ästhetischen Einflüsse des sowjetischen Kriegsfilms spürbar sind. Die Handlung spielt 1944 in Französisch-Westafrika: Westafrikanische Kolonialsoldaten kehren aus europäischer Kriegsgefangenschaft zurück und werden im Militärlager Thiaroye untergebracht. Als die französische Kolonialverwaltung ihnen die versprochene Entschädigung verweigert, brechen Proteste aus. Die Reaktion ist brutal: Kolonialtruppen und französische Gendarmen verüben ein Massaker. Erst 1998 wird CAMP DE THIAROYE in Frankreich gezeigt.
Auch das indonesische antikoloniale Kammerspiel THE BARBED-WIRE FENCE (PAGAR KAWAT BERDURI / DER STACHELDRAHTZAUN, IDN 1961) von Asrul Sani zeigt das zwiespältige Verhältnis von Europa zu seinen Kolonien im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt gab es in den Jahren 1939-1945 etwa 3,5 Millionen Zivilopfer in Niederländisch-Indien. Nach der japanischen Kapitulation brach der Unabhängigkeitskrieg aus, der erst 1949 zu Indonesiens Unabhängigkeit führte. DER STACHELDRAHTZAUN zeigt wie Koenen, der neue Lagerkommandant eines Gefangenenlagers, seine Stelle antritt. In Europa kämpfte der Niederländer im Untergrund als Widerstandskämpfer gegen die Nazis. In seiner Funktion als Lagerkommandant überwacht er nun eine Gruppe indonesischer antikolonialer Revolutionskämpfer. Allmählich entsteht eine Freundschaft zwischen Offizier Koenen und Parman, einem der Insassen. Die Männer führen lebendige Diskussionen über Freiheit, Unabhängigkeit und Unterdrückung. Themen, die auch 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht an Aktualität eingebüßt haben.
Die sowjetische Ausbildung von Studierenden aus den „sozialistischen Bruderstaaten“ sowie aus den Ländern der Dritten Welt verfolgte im Kalten Krieg eine anti-imperialistische Agenda. Doch der Imperialismus der Sowjetunion selbst, und die Verfolgung und Unterdrückung von Minderheiten im eigenen Land, wurden nicht anerkannt, und dementsprechend lange Zeit auch nicht in Filmen aufgearbeitet. Mit wenigen Ausnahmen blendeten die Kriegsfilme der Sowjetunion auch den Holocaust aus. Die Erinnerungskultur des „Ostblocks“ konzentrierte sich auf die Rolle der Roten Armee und auf den Widerstand gegen den Faschismus. Der Film des bereits erwähnten Mark Donskoy verschwand nach 1948 in die Archive und wurde erst während der Zeit von Perestrojka und Glasnost wieder aufgeführt. Damals entstanden auch die ersten Filme über die Verfolgung von ethnischen Minderheiten unter Stalin, vor allem in den Filmstudios des Baltikums. Das Drama DIVINATION ON THE LAMB’S SHOULDER (GADANIE NA BARANEY LOPATKE, Lettische SSR 1988) von Ada Neretniece wird 2025 bei goEast gezeigt, und stellt eine Hauptfigur aus der Kalmückischen Autonomen Sowjetrepublik in den Mittelpunkt. Die Oirat-Kalmücken sind ein buddhistisches Volk, welches im Jahr 1944 fast in seiner Gesamtheit deportiert wurde. Neretnieces Film zeigt ein sibirisches Dorf in der Nachkriegszeit, wo Vertriebene aus der gesamten Sowjetunion zusammenleben. Großvater Anju (gespielt von Maksim Munzuk, bekannt als Hauptdarsteller aus Kurosawas DERSU UZALA) wurde während des Zweiten Weltkriegs aus Kalmückien deportiert. Im Dorf lebt er zusammen mit seinem Enkel Lidji. Eines Tages wird ein Dorfbewohner ermordet aufgefunden. Obwohl unschuldig, gerät Großvater Anju sofort unter Verdacht und wird von der Ortspolizei festgenommen. Der kleine Lidji ist nun auf sich allein gestellt.
HAYTARMA (UKR 2013) von Akhtem Seitablaev thematisiert die stalinistischen Deportationen direkt. Ahmet Khan Sultan, ein für seine Heldentaten im Großen Vaterländischen Krieg zweifach dekorierter Pilot der Roten Armee, kehrt im Mai 1944 während eines Fronturlaubs in seine Heimatstadt Alupka zurück. Dort wird er Zeuge der Deportation der Krimtataren – darunter auch seiner eigenen Familie. HAYTARMA (dt. “Rückkehr”) ist der erste krimtatarische Film und zugleich der erste Spielfilm über dieses Verbrechen. Seit den 1990er-Jahren sind rund 280.000 Krimtataren auf die Krim zurückgekehrt. Doch Russlands Annexion der Halbinsel brachte für viele von ihnen erneut Krieg und Unterdrückung. Zwei weitere Regisseure mit kriegsverbundenen Biografien, die in Moskau Film studierten, sind der Pole Jerzy Hoffman und der Deutsche Konrad Wolf. Hoffmans Eastern Noir THE LAW AND THE FIST (PRAWO I PIĘŚĆ / DAS GESETZ UND DIE FAUST, POL 1964) spielt 1945. Hauptfigur Andrzej Kenig wird aus einem Konzentrationslager befreit. Kurz darauf schließt er sich einer Gruppe Freiwilliger an, die in eine verlassene Stadt der ehemaligen deutschen Ostgebiete entsandt werden, um Plünderungen zu verhindern. Doch seine Kameraden entpuppen sich als korrupte Marodeure. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung und die Umsiedlung der Polen aus den von der UdSSR einverleibten Ostgebieten waren 1964 Tabuthemen. Konrad Wolf, 1925 als Sohn deutsch-jüdischer Kommunisten geboren, wuchs in der Sowjetunion auf. Mit 17 trat er der Roten Armee bei und gehörte 1945 zu den Truppen, die Berlin einnahmen. Diese Erfahrungen verarbeitete er in seinem Klassiker ICH WAR NEUNZEHN (DDR, 1968) einer DEFA-Produktion mit Rekordbudget. Wolfs Alter Ego, Gregor Hecker, wird 1945 Kommandant von Bernau, befreit Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen und trifft auf eine kaputte Heimat, in der er nicht aufgewachsen ist, aber deren Sprache er spricht.
Zu allen Filmen gibt es (film)historische Einführungen. In einer Diskussionsrunde unter dem Titel THE IMPACT OF MISSING IMAGES IN A VISUAL WORLD diskutieren Chingis Azydov (Anthropologe, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Vanishing Languages and Cultural Heritage), Dr. Fabian Schmidt, (Filmwissenschaftler und Holocaust-Forscher, Filmuniversität Babelsberg), Lisabona Rahman (Kuratorin & Filmarchivarin, Jakarta/Berlin) und Barbara Wurm (Slawistin, Leiterin Berlinale FORUM) die (Un)möglichkeit eines multidirektionalen Filmprogramms und beleuchten die Wechselwirkungen zwischen Filmbildern und Erinnerungskultur.
Matinee: Stummfilmkonzert SAXOPHON SUSY am Sonntag, 27. April
Die deutschen und osteuropäischen Filmgeschichten sind historisch eng miteinander verbandelt. Die turbulente Verwechslungskomödie SAXOPHON SUSY (SUZY SAXOPHONE, DEU 1928) ist dafür exemplarisch. Die UFA-Produktion wurde in Berlin gedreht, mit Schauspiel-Ikone Anny Ondra (geboren Anna Ondrakova in Tarnów, Galizien) in der Hauptrolle, und wurde von dem tschechischen Regisseur Carl (Karel) Lamač inszeniert. Die deutsche Originalfassung des Stummfilmklassikers von 1928 galt als verschollen. Bei der Sonntagsmatinee am 27. April wird die neue Restaurierung des DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum gezeigt, live begleitet von Uwe Oberg (Klavier) und Ulrike Schwarz (Saxofon / Flöte), mit einer Einführung von Tomáš Hubáček (Národní filmový archiv) und Thomas Worschech (DFF-Filmarchiv). Susy ist Tänzerin im Revue-Theater, wäre aber lieber Lehrerin geworden. Ihre Freundin Anni träumt vom Showgirl-Dasein, doch ihr Vater, Baron von Aspen, ist strikt dagegen. Als Susy und Anni gleichzeitig nach London reisen, tauschen sie spontan die Rollen. Zu sehen ist rauschendes Zwanziger-Jahre-Kino, inszeniert mit Humor, Energie und Rhythmusgefühl. Insgesamt zeigt goEast 2025 also zwei Stummfilmkonzerte der besonderen Art. Zur Eröffnung am Mittwoch, 23. April, wird MY GRANDMOTHER (CHEMI BEBIA, 1928) mit Live-Musik der finnischen Experimentalband CLEANING WOMEN gezeigt.
MEET THE EAST – Das goEast-Jubiläumsprogramm
goEast schaut mit einem kleinen, aber feinen Programm mit neuen und alten Filmen, besonderen Gästen und einer Ausstellung auf 25 Jahre Festivalgeschichte zurück. Filmgäste aus Deutschland treffen auf Kolleg:innen aus Mittel- und Osteuropa.
Regie-Ikone Margarethe von Trotta präsentiert ihr revolutionäres Kostümepos ROSA LUXEMBURG (CSK, DEU 1986) über die deutsch-polnische Sozialistin, und spricht im Anschluss an den Film über Kunst, Politik, Feminismus und ihre persönliche Beziehung zu Polen. Das Balkannetzwerk YUGORETTEN, vertreten durch Schauspielerin/ Regisseurin und Autorin Mateja Meded sowie Regisseur Boris Hadžija, darf im Jubiläumsjahr nicht fehlen. In ihren Programmen beschäftigen sie sich gemeinsam mit geladenen Gästen mit der Frage nach jugoslawischer (und ex-jugoslawischer) Identität. In dem Zusammenhang präsentieren sie Nataša Urbans rasanten Film THE ECLIPSE (Norwegen, 2022) in der Caligari FilmBühne. In der Festivalwoche laden die Yugoretten außerdem zu einem Panel in das Clubhouse im Alten Gericht ein, mit Gästen wie die vielfach ausgezeichnete bosnische Filmemacherin Jasmila Žbanić (einst goEast-Porträtgast), Symposiumskuratorin Asja Makarević und Nataša Urban. Teil des Jubiläumsprogramms sind auch zwei neue Filme aus der Ukraine: die retrofuturistische SciFi-Komödie U ARE THE UNIVERSE (UKR 2024) von Pavlo Ostrikov, in der Space-Trucker Andriy Melnyk allein auf einem Raumschiff lebt, das radioaktiven Müll von der Erde zum Jupiter-Mond Callisto transportiert. Mit seiner Plattensammlung genießt er die Einsamkeit des Trucker-Daseins. Doch als eines Tages die Erde explodiert, ist Andriy auf einmal der letzte Mensch im Weltall. Dem ukrainischen Filmteam ist es gelungen, mitten im Krieg einen höchstoriginellen Genrefilm zu drehen. Falls ihm eine Ausreisegenehmigung erteilt wird, wird Regisseur Pavlo Ostrikov das goEast-Jubiläum in Wiesbaden mitfeiern. Ebenfalls aus der Ukraine stammt Kateryna Gornostais bemerkenswerter Dokumentarfilm TIMESTAMP (STRICHKA CHASU, UKR, LUX, NLD, FRA 2025), der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feierte. Nach Kriegsbeginn wurde entschieden, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten, um Kinder und Jugendlichen zumindest einen Teil ihres gewohnten Lebens aus friedlichen Zeiten zu erhalten. Der Film gewährt Einblicke in die Auswirkungen des Krieges auf das Alltagsleben von Schüler:innen und Lehrkräften. Das Jubiläumsfilmprogramm geht in der Caligari FilmBühne mit einem von 35mm vorgeführten Klassiker zu Ende: KILL ME SOFTLY (Ubij me nezno, Jugoslawien, 1979) von Bostjan Hladnik war 2024 beim Symposium “Die anderen Queers” die Wiederentdeckung des Jahres. Im ehemaligen Jugoslawien wurde die erotische Krimikomödie mit seinem ansteckenden Diskosoundtrack, campy Dialogen und unerwarteten Nacktszenen zum Kassenschlager.
Zum Jubiläumsprogramm gehört auch die Ausstellung: 25X25, die im Foyer des DFF in Frankfurt am Main vom 15. April bis 15. Mai 25 prägende Persönlichkeiten der mittel- und osteuropäischen Filmlandschaft vorstellt. Filmlegenden wie Agnieszka Holland, Kira Muratova, István Szabó oder Radu Jude waren in den vergangenen 25 Jahren bei goEast zu Gast. Trotz internationaler Festivalerfolge sind die großen Namen des mittel- und osteuropäischen Kinos dem deutschen Publikum oft genug unbekannt. Die Ausstellung 25×25 in Frankfurt präsentiert Bilder von goEast-Festivalfotograf:innen samt Biografien und beeindruckenden Filmografien der Filmschaffenden. Ergänzend zeigt eine Multimediainstallation, der sogenannte Cinecube, Filmausschnitte preisgekrönter goEast-Filme im Loop.
Akkreditierung
Pressevertreter:innen können sich hier ab sofort für das goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films akkreditieren. Während des Festivalzeitraums erhalten akkreditierte Fachbesucher:innen und Pressevertreter:innen Zugriff auf eine Online-Mediathek mit den Festivalfilmen.
goEast-Pressekonferenz
Die Pressekonferenz findet am Mittwoch, 16. April, hybrid um 11 Uhr in Frankfurt im Kino des DFF statt. Anmeldungen sind willkommen.
Kartenvorverkauf
Der Vorverkauf für die Filmtickets sowie für einzelne Veranstaltungen startet am Donnerstag, 3. April, online hier sowie an der Vorverkaufsstelle – der Touristeninformation in Wiesbaden. Während der Festivalwoche sind Tickets online, an allen Spielstätten und im neuen Festivalzentrum im Alten Gericht Wiesbaden erhältlich. Genauere Informationen zu den Vorverkaufsstellen finden Sie hier.
Bildmaterial finden Sie in unserem Downloadbereich.
Das komplette Programm für die 25. Ausgabe von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films wird im März veröffentlicht.
goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films wird vom DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum veranstaltet und von zahlreichen Partnern unterstützt. Hauptförderer sind die HessenFilm und Medien GmbH, die Landeshauptstadt Wiesbaden, der Kulturfonds Frankfurt RheinMain, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die hessische Film- und Medienakademie (hFMA), das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis, Hauptmedienpartner sind 3sat, Deutschlandfunk Kultur und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.